Juli Zeh: Neujahr

ES

Neujahr ist der perfekte Zeitpunkt für gute Vorsätze. Henning nutzt den Morgen des ersten Januar für eine anspruchsvolle Radtour auf den Atalaya-Vulkan auf Lanzarote, denn Stressabbau durch mehr Sport und mehr Aufmerksamkeit für seine Frau Theresa gehören zu seinen Plänen für das neue Jahr. Auf den ersten 70 ihres knapp 200 Seiten umfassenden Romans Neujahr schildert Juli Zeh die Schinderei am Berg, zwanzig Prozent Steigung bei Gegenwind, und lässt den Vater der zweijährigen Bibbi und des vierjährigen Jonas seinen ihn konstant überfordernden Alltag reflektieren. Moderne Eltern wollen er und Theresa sein, deshalb haben sie die alten Rollenklischees überwunden. Beide haben einen Halbtagsjob durchgesetzt, wobei Henning sich verpflichtet fühlt, wegen seines geringeren Verdienstes in einem Sachbuchverlag einen etwas größeren Part zuhause zu übernehmen. Ein scheinbar perfektes Familienmodell und doch eine permanente Selbstüberforderung für Henning, der seit zwei Jahren unter heftigen Panikattacken leidet, von ihm als ES tituliert, mit horrorartigem Herzrasen, Atemnot, brennendem Zwerchfell und außer Kontrolle geratendem Körper und Geist. Der spontan von ihm gebuchte Familienurlaub über Weihnachten und Neujahr auf Lanzarote sollte aus der Tretmühle des Alltags herausführen, doch ES hat ihn auch hierher verfolgt.

Auf dem Gipfel angekommen, dehydriert, unterzuckert und völlig entkräftet, beginnen die Konturen zwischen Realität und Fantasie sich aufzulösen. Eine rätselhafte SMS von Theresa kann er kaum glauben und ein Déjà-Vu in einem Haus auf dem Berg katapultiert ihn in seine Vergangenheit. Damals, als Vier- oder Fünfjähriger, hatten seine Eltern nach einem Streit ihn und seine zweijährige Schwester Luna alleine zurückgelassen. Auch während dieses Horrorurlaubs, einer verdrängten Episode seiner Kindheit, musste Henning mehr Verantwortung übernehmen, als er schultern konnte.

Die beiden Hauptteile des Romans – der Aufstieg und das traumatische Kindheitserlebnis – haben mir von ihrer Dramaturgie und Erzählweise jede für sich außergewöhnlich gut gefallen. Das Herannahen des ES („ES nimmt Witterung auf“ – „ES dehnt die Glieder“ – „ES setzt zum Sprung an“ – „ES springt“) ist großartig beschrieben, ebenso wie der verdrängte Kindheitsurlaub. Allerdings habe ich mich bei der Lektüre gefragt, ob Juli Zeh nicht besser zwei Romane daraus gemacht hätte, einen modernen psychologischen Familienroman und einen Thriller, obwohl offensichtliche Parallelen wie das Motiv elterlicher Überforderung die beiden Teile verbinden. So entwertet der zweite Teil, der auf einmal die wahre Antwort auf das Warum für ES liefern soll, den ersten, der für mich bereits Erklärung genug war.

Trotz dieser Kritik, trotz des für mich ein wenig zu eindimensional geratenen Schlusses und obwohl ich Romane, die mehr Raum für Interpretationen lassen, eigentlich lieber mag, sind beide Teile und natürlich auch der Roman als Ganzes absolut lesenswert.

Juli Zeh: Neujahr. Luchterhand 2018
www.randomhouse.de

Schreib einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert